20090801


Ausstellungsbeitrag
 FENSTERBRÜCKE
 zur Ausstellung: Tanz auf dem Vulkan

Lange schon
hing das berühmt-berüchtigte Damoklesschwert über meiner damaligen Wirkungsstätte (2007-2009), dem Atelierkomplex in den Gebäuden der Weimarer Heinrich Heine Straße. Im Sommer 2009, während der ersten Phase des Abbruchs und der Sanierung der lieb gewonnenen Gebäude, gelang es mir eine größere Menge der alten Fenster vor der Zerstörung zu bewahren. Aus dieser Sammlung entstand die Skulptur Mauern öffnen, Brücken schlagen!, welche temporär den ehemaligen Weimarer Schlachthof mit der gegenwärtigen Agentur für Arbeit verband. 2009/2010 konnte man eine regelrechte Sanierungswelle von kleineren Produktionsstätten und günstigen Rückzugsräumen in Weimar beobachten und 2010 antworteten die Akteure der Ateliergemeinschaft des Gaswerks mit einer ähnlichen Aktionsreihe, in dem sie gleich eine ganze Stadt aus einer groß angelegten Sammlung alter Fenster entstehen ließen. (link)
Skulpturansicht, mit Blick auf die Agentur für Arbeit
Zu der von mir realisierten Arbeit beschenkte mich Maxie Kretzschmar anschließend mit einem Textbeitrag:


Eine Brücke aus Fenstern


Zwischen dem Arbeitsamt Weimar und dem ehemaligen Schlachthof der Stadt entspannt sich eine Brücke aus Fenstern, Backsteinen und Holzlatten. Sie führt direkt in die seit 2008 temporär für Ausstellungsprojekte genutzte Brache, wo früher Schlachtbanken und Kühltruhen den Raum gliederten. Die ursprüngliche Funktion des Gebäudes spielt für die Ausstellungsmacher eine besondere Rolle: Schlachthof – Wer schlachtet was? Wer schlachtet wen? Und wer wird ausgeschlachtet? Im Zusammenhang mit der jährlich statt findenden Präsentation der Bauhaus Universität, die in Weimar Summaery heißt und 2009 „Alles Gute“ der Studierenden präsentieren will, sind diese Fragen wohl berechtigt. Und eine gläserne Brücke kann womöglich bei diesen Fragen Abhilfe schaffen…

Wenn eine Brücke gebaut wird, dann weil das Überwinden eines Tales Mühe macht. Über die Zeit haben sich verschiedene Formen entwickelt: Von der Hängebrücke aus Tau und Ästen bis zur Vollstahlbrücke hat sich ein breites Spektrum heraus gebildet. Die Brücke aus Fenstern ist neu, aber eng verwandt mit der Fachwerkbrücke, die vor allem durch das Zusammenspiel von Zug und Druck funktioniert. Sie wird auf Grund ihrer hohen Belastbarkeit vor allem für Eisenbahnstrecken eingesetzt. Am alten Schlachthof ist die Brücke im doppelten Sinne ihrer Funktion beraubt: Weder ist sie begehbar geschweige denn belastbar noch überbrückt sie ein konkretes Hindernis. Die Fragilität des Materials Glas hindert daran, sich auf den Weg zu machen. Und der Besucher wird gezwungen neben der Brücke das abstrakte Hindernis ohne Hilfsmittel zu überqueren. Das ist die einzige Möglichkeit, um in den Ausstellungsraum zu gelangen. Eine Eisenbahn ist auch weit und breit nicht zu sehen… Also nebenher laufen!?

Blick auf den alten Schlachthof
Die Brücke entspannt sich von Boden zu Boden, den sie gleichsam überbrückt. Pfähle aus Backstein und Holzlatten halten sie im höchsten Punkt auf ca. 1,20 m. Der reißende Strom oder die Ilm bleiben aus. Gras und Unkraut bedeckt den ebenen Boden und die Brücke beides. Beim Gang neben der Brücke kommen die Fragen: Warum eine Brücke, die nichts zu überbrücken hat? Warum führt sie in einen Innenraum? Warum Fenster? Warum hier? 

Ob die Brücke tatsächlich nichts überbrückt, ist zu bezweifeln. „Grüne Wiese“ und „blühende Landschaften“ müssen mühevoll zu Fuß durchschritten werden, um zum Ziel zu gelangen. Die Herkunftsorte der Fenster sind Opfer der Wende und der Wiedervereinigung beider deutschen Staaten. „Mauern öffnen, Brücken schlagen!“ und Aufbruch hin zum Westen waren Programm. Dass diese Entwicklung mit dem Wegbruch bestehender industriellen Strukturen einher ging, wurde spät erkannt und ein Umlenken kaum möglich. Vis a Vis zum ehemaligen Schlachthof wurde beispielsweise in den 1990er Jahren Thüringens „modernste Schlacht-, Zerlegungs- und Verwurstungsbetrieb“ errichtet. „Mauern öffnen, Brücken schlagen!“ versinnbildlicht den andauernden Prozess des Zusammenwachsen der deutschen Staaten und den Umgang mit vorhandenen Ressourcen.

Im Zusammenhang mit dem Ort, der Einbettung in die Jahresausstellung Summaery, den Umständen der Ausstellung und der exponierten Lage der Brücke im Eingangsbereich wird sie auch zum Sinnbild des Studiums an deutschen (Kunst-) hochschulen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Studierenden. Nicht nur die Studienzeit gleicht dem permanenten Hin und Her auf der gläsernen Brücke: Entscheidungen werden zwischen einem „Entweder … oder …“ gefällt und das auf unsicherem, obgleich potentiell transparentem Boden. Zwischen Arbeitsamt und Schlachtbank fällt die Orientierung schwer!
Die technische Meisterleistung des VEB Patermann im Brückenbau lässt also unterschiedliche Interpretationen zu, provoziert sie gar. Eines ist sicher, die Glasbrücke ist dem Menschen keine Hilfe. Sie wirft Fragen auf, ohne Antworten zu liefern. Sie öffnet Denkräume ohne Fluchtpläne. Sie täuscht Leichtigkeit vor und wiegt statt dessen schwer wie Blei. Und das ohne Netz und doppelten Boden.